Herz schlägt Talent

Sie ist die einzige ihrer Art: Kathrin Lehmann war Fußball- und Eishockey-Profi. In beiden Sportarten schoss Lehmann in den höchsten Ligen Tore – dabei stand sie auf dem Grün selbst im Tor. Heute kennt man Kathrin Lehmann vor allem als Fußball-Expertin im ZDF. Mit Continental spricht die deutsch-schweizerische Ausnahmesportlerin über ihre seltsame Karriere, über die Zukunft des Frauenfußballs – und über die Chancen der DFB-Frauen im Sommer bei der Europameisterschaft in der Schweiz.
Frau Lehmann, Sie sind TV-Expertin, Geschäftsführerin, Unternehmensberaterin, Dozentin, Ex-Profi in verschiedenen Sportarten… Wie würden sie sich selbst eigentlich kurz vorstellen?
Als Geschäftsführerin des Sportbusiness Campus. Und als Fußballexpertin. Aber eigentlich auch als Dozentin. Und als Coach. (lacht)
Also doch alles.
Ich habe einfach keinen Alltag. Es gibt keinen Tag, der dem vorherigen gleicht.
Sie waren zuvor sowohl Eishockey- als auch Fußballprofi. Sie haben in den höchsten Fußball- und Eishockeyligen Deutschlands ein Tor erzielt. Wie ging denn das? Schließlich waren Sie zumindest im Fußball ja Torhüterin.
An jenem Tag hatte ich nicht als Torhüterin, sondern als Stürmerin gespielt. Die zweite Mannschaft des FC Bayern war damals abstiegsgefährdet. Deshalb haben viele aus unserer Truppe, aus der ersten Mannschaft, bei denen ausgeholfen. Dann aber fielen einige Spielerinnen in der ersten Mannschaft wegen Krankheit aus – und wir hatten in A-Elf plötzlich nur noch 14 Spielerinnen. Da ich gut am Ball war, wurde ich kurzerhand im Sturm aufgestellt.
Gegen wen ging es eigentlich?
Gegen die TuS Niederkirchen. Ich hatte, soweit ich mich erinnere, das 1:0 zum späteren 3:0-Sieg geschossen.
Unvorstellbar, dass so etwas bei den Männern passieren würde, oder? Manuel Neuer im Sturm?
Von den Fähigkeiten her könnte Neuer das. Die Position des Stürmers könnte wahrscheinlich jeder Bundesliga-Torhüter heutzutage spielen. Aber wir reden hier von einer Zeit im Frauenfußball von vor über 20 Jahren. Heutzutage hat auch jede Frauenmannschaft viel mehr Profis.
Haben Sie im Fußballtor mehr von den Erfahrungen als Eishockey-Goalgetterin profitiert oder im Eishockey mehr vom Knowhow als Fußball-Torhüterin?
Die Sportarten waren ja das Ying und Yang meiner Karriere. Im Fußball war ich eine ungeheuer schnelle Torhüterin, habe so ganz viele Angriffe eingeleitet. Das kam vom Eishockey – einem wahnsinnig schnelllebigen Sport. Im Eishockey wiederum habe ich zig dreckige Abstauber-Tore erzielen können – weil ich es als Fußballtorhüterin gewohnt war, permanent hochfokussiert auf den Ball zu sein. Das half dann auch auf dem Eis.
Wären Sie vielleicht eine noch bessere Sportlerin geworden, wenn Sie sich auf eine Sportart festgelegt hätten?
Nein. Ich war überall am Maximum. Bei der Leistung, beim Spaß – und das beides zählte für mich. Ich hätte vielleicht ein paar Titel mehr geholt und etwas besser verdienen können, wenn ich mich nur auf Fußball fokussiert hätte. Die Fußball-Verantwortlichen wollten mir sowieso immer das Eishockey-Spielen verbieten.

Ernsthaft?
Es gibt keine Sportart, die sich für so wichtig nimmt wie Fußball. Aber mich hat man nie ganz. Im Fußball habe ich mein Geld verdient, im Eishockey habe ich die großen Momente erlebt. Die Bronzemedaille bei der Weltmeisterschaft. Oder auch zwei Teilnahmen an Olympischen Spielen.
Heute sind Sie als Fußball-Expertin im ZDF bekannt. Sehen Sie durch Ihre sportliche Vielseitigkeit andere Dinge auf dem Platz?
Vielseitigkeit ist eine Stärke. Wer nicht monoton handelt, nimmt andere Dinge wahr. Ein Profi-Pianist spielt nicht nur Jazz, sondern auch Klassik, Boogie-Woogie und Rock’n’Roll. Eben weil er alles spielt, hat er auch ein Gespür für andere Töne.
Welche Töne sind Ihnen als TV-Expertin besonders wichtig?
Ich versuche zu erklären, was passiert. Ich weiß, wie sich das auf dem Platz anfühlt: Wenn du den Puls auf 200 hast, dein Herz nur noch in den Ohren hämmert, alles wehtut und du dann noch einen Schubs in den Rücken kriegst. In der Gemengelage laufen auch Profis dann plötzlich nach links, nicht nach rechts.
Sie leben die Sportbegeisterung. Woher aber kommt die? Nur von Ihren Eltern, die beide Sportlehrkräfte sind?
Das war schon wichtig. Ich bin in einer kleinen Siedlung mit zwei größeren Brüdern aufgewachsen. Das war wie bei den Kindern von Bullerbü: 20 Häuser, 20 Kinder. Alles, was wir gemacht haben, war zusammen spielen.
Mehr braucht es nicht für große Sportlerkarrieren?
Es braucht sicherlich noch eine gewisse Bewegungs- und Rhythmisierungsgabe. Es gibt so Sportler, die haben das. Roger Federer, Michael Schumacher, Steffi Graf, Mikaela Shiffrin, Felix Neureuther – die wären wahrscheinlich in jeder Sportdisziplin Weltklasse geworden.
Würden Sie heranwachsenden Sportlerinnen einen ähnlichen Werdegang wie Ihren empfehlen?
Ich würde dringend dazu raten, so viel wie möglich auszuprobieren. Niemand wird Weltklasse, weil man ab dem 14. Lebensjahr sieben Tage die Woche monoton die gleichen Abläufe trainiert. Spaß macht’s nur, wenn man die Leidenschaft im Herzen hat – egal, für wie viele Sportarten parallel.
Die Gehälter im Frauensport sind immer noch niedrig. Sollten Profis einen Plan B haben?
Niemand hat mehr Zeit zu studieren als Profis. Man ist permanent unterwegs oder in Hotelzimmern. Alles Zeiten, in denen man lernen, lesen und Arbeiten schreiben kann. Es ist so wichtig und tut so gut, wenn man ab und zu andere Dinge im Hirn hat. Wenn man auch mal mit Problemstellungen zu tun hat, die sich nicht um die Startelf im nächsten Spiel drehen.
Neben Ihrer Arbeit als Geschäftsführerin des Sportbusiness Campus und als ZDF-Expertin betreiben Sie auch den Podcast „3 Ecken: 1 Elfer“, in dem Sie mit zwei Kollegen über die Frauen-Bundesliga diskutieren. Wie wichtig sind solche Formate, um die Akzeptanz des Frauenfußballs zu steigern?
Jede Sichtbarkeit für Frauensport ist wichtig. Gehen Sie mal in die Kicker-App und schauen, wo der Frauenfußball aufgelistet ist. Da müssen Sie ganz schön weit nach unten scrollen.
Dabei sehen wir doch aktuell eine stark steigende Beliebtheit des Frauenfußballs. Das DFB-Pokalhalbfinale HSV gegen Werder Bremen etwa lockte 57.000 Menschen ins Hamburger Volksparkstadion. Was muss getan werden, damit diese Bewegung anhält?
Die Chancen, die sich auftun, müssen genutzt werden. Die Frauen sind zum Beispiel viel nahbarer. Das lässt sich auch auf Social-Media-Formaten besser nutzen. Und schon ergeben sich neue Vermarktungsmöglichkeiten. Auch weil das Publikum ein anderes ist. Studien zeigen, dass vor allem viele Familien ins Stadion kommen, das Bildungsniveau und das Einkommen der Zuschauer im Stadion sind höher als bei den Männern. Das ist eine neue Art von Eventkundschaft. Marketingmenschen müssten begeistert sein.

Werfen wir einen Blick auf die deutsche Frauen-Nationalmannschaft: Bei der EM 2022 kam man ins Finale, bei der WM vor zwei Jahren wiederum war bereits in der Vorrunde Schluss. Bei Olympia sprang dann letztes Jahr wieder die Bronze-Medaille heraus. Wie steht es denn nun um die deutschen Frauen?
Der deutsche Frauenfußball war weltweit lange Zeit das Maß der Dinge. Er ist auch gar nicht wirklich schlechter geworden. Nur sind jetzt eben auch die anderen Nationen professionell aufgestellt. Die Spitze wird immer breiter. Aber: Nach dem WM-Erlebnis die Olympia-Quali zu packen und dort auch noch eine Medaille zu gewinnen, war richtig stark. Und eins ist klar: Herz schlägt Talent.
Was bedeutet das für diese EM?
Ich bin bekannt für meine Meinungsfreudigkeit. Daher sage ich: Deutschland wird Europameister.
Was macht Sie so optimistisch?
Die Zusammensetzung des deutschen Teams. Die Mannschaft ist jung und dennoch erfahren. Einige Spielerinnen sind nicht mal Mitte 20 und haben bereits 50 Länderspiele in der Vita stehen. Das können die anderen Nationen nicht bieten. Und das ist der Vorteil von Deutschland. Denn dieses Turnier wird brutal lang und anstrengend werden.
Als gebürtige Schweizerin, die jedoch seit 2017 auch die deutsche Staatsangehörigkeit besitzt: Wem würden Sie beim Aufeinandertreffen von Deutschland und der Schweiz bei der Fußball-EM in diesem Sommer die Daumen drücken?
Das kann erst im Finale passieren. Daher bin ich da total entspannt und würde mich für beide freuen.
ZDF-Expertin Kathrin Lehmann (45) ist gebürtige Schweizerin, hat jedoch seit einigen Jahren auch einen deutschen Pass und lebt seit über 20 Jahren in München. Auch sportlich wollte sie sich nie festlegen: Sie ist bis heute die einzige Frau, die im Fußball und im Eishockey den höchsten europäischen Pokalwettbewerb gewonnen hat. Als Geschäftsführerin des Sportbusiness Campus bringt sie jungen Menschen die wirtschaftlichen Prozesse im Profisport nahe.
